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Kolumne

28.5.2024

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Von Hans Neubert & Martin Wenk

Das Phänomen "Erewhon"

Wie der Gang zum Supermarkt zum Status-Symbol wird

In der monatlichen Kolumne „Trend Slay“ schnappen sich Digital Media Experte Hans Neubert und Research & Analytics Experte Martin Wenk die aktuellen Trends im Digital Marketing, schütteln sie kräftig durch und servieren sie mit einer Extraportion Anwendungs-Insights für Marketeers. Hier werfen wir einen Blick auf die neuesten digitalen Strömungen, die die Welt um uns herum prägen, und fragen uns: "Sind wir in der Hype-Suppe etwa alle nur Croutons oder gibt es da draußen noch mehr zu schlucken?"

Geschnittene Gurke für 30 Dollar, der “Hailey Bieber Smoothie” für 17 Dollar und die Einkaufstasche zum Mitnehmen für über 100 Dollar - ja, das ist ein Supermarkt: Das ist “Erewhon”.

Schon lange ist die Schaffung von Erlebnissen ein entscheidender Faktor für den Erfolg einer Marke. Diesen Grundsatz lebt kein Unternehmen mehr als die LA und California Supermarkt-Kette “Erewhon”. Experience ist das Stichwort - nicht zuletzt durch TikTok und Instagram. Heute beschäftigen wir uns mit einem Lebensmitteleinzelhändler, der dem Wort schon gar nicht mehr gerecht wird und es geschafft hat, aus einem Gang zum Supermarkt Experience-Marketing mit echter Viralitätsquote zu machen. Das Schlendern durch die Regale wird zum Erlebnistrip, der alle Sinne anspricht und Emotionen weckt. Und so wird aus einer Alltagssituation mit der richtigen Branding-Ausrichtung ein Multi-Millionen Dollar Business mit knapp 200 Millionen Jahresumsatz. Wir blicken zwischen die Regale und Obstkörbe und schauen aus der Digital-Perspektive: Wie läuft der Laden eigentlich wirklich?

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Utopie gibt es also doch - und das im Supermarkt

"Erewhon" (englisch rückwärts, angelehnt an “nowhere”) ist eine Luxus-Supermarktkette, die in den letzten Jahren einen enormen Boom erlebt hat. Ihr Erfolg beruht nicht nur auf hochwertigen Produkten, sondern auch auf einem einzigartigen Markenerlebnis. Der Name selbst ist eine Anspielung auf den fiktiven Ort aus Samuel Butlers gleichnamigem Roman, der eine Utopie darstellt, in der die Menschen im Einklang mit der Natur leben. Der Laden strahlt eine Aura des Luxus und des Exklusiven aus, die Kunden dazu verleitet, mehr als nur ihre Einkaufsliste abzuarbeiten. Der sorgfältig gestaltete Innenraum, die Auswahl an Produkten und das Engagement für Nachhaltigkeit tragen alle dazu bei, dass ein Einkauf bei "Erewhon" schon lange kein normaler Supermarkt-Besuch mehr ist. Die Marke hat es geschafft, eine starke emotionale Verbindung zu ihrer Kundschaft aufzubauen, indem sie eine Botschaft der Gesundheit, des Wohlbefindens und des Luxus vermittelt. Von der Verpackung ihrer Produkte bis hin zu ihren Kollaborationen und Kampagnen strahlt "Erewhon" ein konsistentes Bild aus, das seine Zielgruppe anspricht und loyal bindet. Influencer:innen und Prominente teilen regelmäßig Bilder, Videos und Geschichten von ihren Einkaufserlebnissen, wodurch die Marke einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und wird. Der Wunsch vieler Menschen, ein Teil dieses “Clubs” zu sein, treibt die Nachfrage weiter an. 

Wie ein VIP Bändchen am Arm  

Genau dieser Luxus spiegelt sich beim “Coachella der Supermärkte” auch in den Preisen der Lebensmittel wider. Viele, die ihren Einkauf bei Erewhon mitfilmen (das ist in LA eine völlige Normalität), bemerken schnell, dass die wildesten Preise von den Regalen in ihre Einkaufskörbe wandern. Gerechtfertigt werden diese durch das exklusive “organic” Sortiment und die “most convenient” Aufbereitung der Lebensmittel, die jedes OCD-Herz höher schlagen lassen: “aestheticly pleasing, aber leckofatze Preise” für geschälte Mandarinen, geschnittene Zucchini und 8-eckig zerlegte Ananasstücke, sagt die deutsche Creatorin Yules, die den Supermarkt bereits ausprobiert hat.

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Trotzdem sehen wir hier, dass die ästhetisch Inszenierung der Produkte und das Packaging sogar für Lebensmittelmarken einen WOW-Effekt rechtfertigt.

Die neue Ära der “Convenience” 

Ready-to-eat Lebensmittel sind das absolute Stichwort. Die Märkte passen ihre Produktpalette dem hektischen Lebensstil ihrer Verbrauchenden an und Mahlzeiten und Snacks werden in vielen Arten verzehrfertig angeboten. Nicht mehr nur Salatmischungen und Sandwiches werden in den Kühlregalen gekauft. Bei Erewhon werden Einkaufende wie @eltheegg Obst, Gemüse, Frühstück, Hauptspeise, Snacks, Nachtisch - you name it - in passgerechten, durchsichtigen Verpackungen mundgerecht zubereitet und platziert. Aber was ist der Punkt, der uns doch wieder zu “Fertigprodukten” greifen lässt? - Die Qualität. Sich bewusster zu ernähren ist für viele ein komplizierter Prozess. Wenn qualitativ hochwertige Bio-Produkte verarbeitet werden, können wir gewissenhaft zur bequemen Variante greifen.

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Comfort ist King und Verbrauchende lassen sich das auch mal ein paar Euros mehr kosten.

Experience statt Retail

Menschen in LA pilgern massenweise zu dem wohl kultigsten Supermarkt in den Staaten. Warum? Weil es DAS “Happening” ist, das man mitgemacht haben muss. Influencer:innen posten “Get ready with me”-TikToks und zeigen ihr Outfit für den Einkaufsbummel, als ob sie sich für das nächste große Event fertig machen. VLOGs durch die geweihten Regalreihen von Erewhon lassen die Follower:innen live beim wohl teuersten Lebensmittel-Einkaufsbummel dabei sein. Manche Creator spielen Ratespiele über die jeweiligen Preise der Produkte. Jeder, der nicht glaubt, ein paar geschälte Eier können so viel wie ein Ryanair Flugticket kosten, kann hier noch einmal so richtig sprachlos werden. Marken können ein so starkes und essentielles Erlebnis kreieren, sodass der Preis gar nicht gerechtfertigt werden muss und unter den Teppich fällt.

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Die Zeit bleibt stehen

Einige Creator, wie @adorable_caro werden so überflutet von den Eindrücken, dass sie sich scheinbar tagelang im Laden aufhalten und stundenlang Content filmen könnten. Und genau das kommt dem Supermarkt zu Gute: Jeder teilt sein eigenes Markenerlebnis nach Betreten der heiligen Erewhon Markthallen und kommentiert mit manchmal großer Ratlosigkeit über die Preise beim Griff zu beinahe jedem Lebensmittel. Die Zeit, die Verbrauchende bei Erewhon verbringen, ist kostbar. Unterbewusst funktioniert Erewhon wie ein Statussymbol unter dem Motto “Du bist privilegiert, hier Schlange stehen zu dürfen. Du stellst dich an, aber hast keine Eile, die Zeit steht quasi still - du kriegst deinen Hailey Bieber Strawberry Glaze Skin Smoothie für $17 nicht sofort nach der Bestellung, aber das würde auch niemand von Erewhon jemals erwarten.” Der Hype zelebriert Rituale und bindet diese geschickt in das Kauferlebnis ein. Rituale im hektischen Alltag der Konsumierenden zu schaffen ist die wahre Kunst und prägt die Erfahrung als Zelebrierung von Selbstliebe, “Selfcare” und Selbstverwirklichung. 

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LA, Paris oder Walachei - wenn ein Erlebnis geboten wird, nehmen Konsumierende auch lange Wege auf sich, ohne über die Kosten nachzudenken. Influencer sind hier großartige Reichweitenmultiplikatoren, aber Marken können den Hype Faktor der Einkaufserfahrung mit der richtigen Inszenierung so gestalten, dass darüber die geredet und berichtet werden muss! Let’s discover the shop-erience!