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Kolumne

6.2.2025

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Von Hans Neubert & Martin Wenk

„We Listen and We Don’t Judge“ - Gnadenlose Ehrlichkeit gewinnt

In der monatlichen Kolumne „Trend Slay“ schnappen sich Digital Media Experte Hans Neubert und Research & Analytics Experte Martin Wenk die aktuellen Trends im Digital Marketing, schütteln sie kräftig durch und servieren sie mit einer Extraportion Anwendungs-Insights für Marketeers. Hier werfen wir einen Blick auf die neuesten digitalen Strömungen, die die Welt um uns herum prägen, und fragen uns: „Sind wir in der Hype-Suppe etwa alle nur Croutons, oder gibt es da draußen noch mehr zu schlucken?“

TikTok ist erneut Schauplatz eines viralen Trends: „We Listen and We Don’t Judge“! - Wir hören zu und wir urteilen nicht! Der Trend, bei dem Paare ihre geheimen Beichten voreinander ablegen, hat in den letzten Wochen die Aufmerksamkeit von Millionen auf sich gezogen. Es geht um den scheinbaren Akt der Offenheit und Intimität, gepaart mit der Herausforderung, keine Urteile zu fällen. Doch dieser scheinbare Trend zur Ehrlichkeit und Transparenz zeigt weit mehr als ein wenig Gossip, sondern gibt Einblicke in das soziale Verhalten auf Social Media. Was können Marketer aus diesem Trend lernen, und welche tieferliegenden Themen sprechen ihn an?

Die Essenz des Trends: Offenheit und Spektakel?

Der „We Listen and We Don’t Judge“-Trend dreht sich darum, dass Paare in einem regelrechten Beichtstuhl-Format Geheimnisse austauschen, während sie betonen, dass sie sich gegenseitig nicht verurteilen. In vielen Fällen sind es kleine und vermeintlich harmlose Beichten wie „Ich klaue immer die Pommes aus dem Happy Meal unseres Kindes“ oder „Ich gebe dir absichtlich immer den Teller mit der kleinen Portion, weil ich so viel Hunger habe“. Doch der Trend nimmt schnell eine dunklere Wendung, wenn sich zunehmend „geheimere“ und moralisch fragwürdigere Enthüllungen in den Videos zeigen. Ein Beispiel: Ein Ehemann gesteht, er habe seiner Frau heimlich Laxativa, eine Abführmittel, in den Kaffee gemischt, um sie zu einer bestimmten Handlung zu bewegen. Der Trend verselbstständigt sich und Paare beginnen ohne jeglichen Filter, ihre Gedanken auszusprechen, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. In manchen TikToks wie von @derbasty gestehen die Personen Dinge, die für Andere ein Trennungsgrund wären: “Manchmal wünsche ich mir, dass wir nicht zusammen wären, weil die anderen Boys besser ausschauen - don’t judge”

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In der Theorie klingt der Trend nach einem sympathischen Ansatz, um Paare in einer „keine Urteile“-Zone auf Augenhöhe zu bringen, aber viele stellen sich die Frage “Müssen wir wirklich jeden Gedanken unserer Partner:innen kennen?”.

Parasoziale Neugier und der Reiz von Intimität

Ein zentraler Aspekt des Trends ist die parasoziale Beziehung, die zwischen den Zuschauenden und den Creator:innen der Videos entsteht. Obwohl diese Personen sie nicht direkt kennen, fühlen sich viele Nutzende mit ihnen verbunden, als ob sie Teil ihres Lebens wären. Dies weckt eine starke Neugierde über ihre privaten Geheimnisse und intime Momente.Übrigens auch ein Grund warum “Whats in my bag” oder “Whats in my Fridge” Formate so gut funktionieren. Wir wollen es wissen - die Neugierde siegt!

Für viele Social Media User:innen ist dieser Trend ein Fenster in die Welt der anderen, ein Blick hinter die Kulissen von Beziehungen, der durch die ehrlichen oder nicht ganz so ehrlichen Beichten möglich wird. Diese Art der „Teilhabe“ ist Social Media Gold! Die Reaktionen und Kommentare in den Feeds sind oft genauso intensiv wie die Geständnisse der Paare selbst, was auf die starke parasoziale Bindung hinweist.

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Ehrlichkeit schafft Authentizität – auch wenn wir alle strugglen dieses Wort auszusprechen, ist und bleibt es eine der wichtigsten Währungen auf Social Media. Marken können diese „Beichten“ nutzen, um Transparenz zu zeigen, Sympathie aufzubauen und eine tiefere Verbindung zu ihrer Community herzustellen. Dabei könnte es sich um ehrliche Einblicke in Herausforderungen, Lernprozesse oder „Fails“ handeln, die das Unternehmen durchlaufen hat. Behind the Scenes, Fuck-Ups und echte Geschichten machen den Content zum Entertainment Programm. Der Account von @kaptenandson.de setzt auf Beichten seiner Mitarbeiter und filmt Interviews, ob und was sie schon einmal gestohlen haben: Geld und Golfkarts werden gebeichtet, aber nicht verurteilt. 

Der Schlüssel ist, bei solchen „Beichten“ immer den Fokus auf die Lösung, die Weiterentwicklung und die positiven Veränderungen zu legen, um eine inspirierende Botschaft zu vermitteln und die Marke gleichzeitig als lernfähig und kundenorientiert zu positionieren. LEGO hat in der Vergangenheit mit ihren Rebuild the World und Rebrickulous Kampagnen den Fokus auf ehrliche Probleme gesetzt. Sie haben nicht nur ihren eigenen Produktfails eine Plattform gegeben, sondern auch der Community ein Sprachrohr verliehen, um für alle möglichen Hindernisse mit viel Kreativität Lösungen zu finden. Marken können Kundenfeedback von solchem Failcontent benutzen um menschlicher, nahbarer und vertrauenswürdiger den Konsument:innen entgegenzutreten.

Der Marktwert von Transparenz und Authentizität

Für das digitale Marketing gibt es aus diesem Trend wertvolle Erkenntnisse, insbesondere im Hinblick auf die Priorität von Authentizität und Transparenz in der Kommunikation. Der Erfolg von „We Listen and We Don’t Judge“ zeigt, dass Konsument:innen eine große Neugier auf persönliche Geschichten und intime Einblicke haben. Dieser Trend beweist, wie stark das Bedürfnis auch in der digitalen Kommunikation gewachsen ist – etwas, das auch Marken und Unternehmen für ihre Marketingstrategien nutzen können. Warum sonst sind Marken, die mit authentischen Creator:innen kooperieren, so erfolgreich? 

Transparenz kann hierbei sowohl von der Perspektive der Konsument:innen als auch aus der Sicht der Mitarbeiter:innen geschehen. Die allgemeine Forschung zur Selbstoffenbarung besagt, dass wir Personen viel eher glauben, wenn sie persönliche Schwächen oder peinliche Erlebnisse teilen. Sie werden ebenfalls als authentischer und vertrauenswürdiger wahrgenommen. Denn laut dem Vier-Seiten-Modell nach Schulz von Thun, das Berater:innen und Kommunikator:innen in vielen Konzepten anwenden, heißt es, Glaubwürdigkeit entsteht in Kommunikation durch Ehrlichkeit, Transparenz und die Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.Marken, die es verstehen, echte Geschichten zu erzählen, die Nähe zu ihrer Zielgruppe aufzubauen und gleichzeitig Raum für individuelle Meinungen und Erfahrungen zu lassen, können das Vertrauen ihrer Community gewinnen. 

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XOXO, Gossip Groups

Wir lieben Gossip und Kontroversen: Der Trend zeigt auch, wie schnell Kommentare und Reaktionen von der Viewer Base den Erfolg einer Aktion beeinflussen können. So ist es bei vielen dieser Videos der Fall, dass die Reaktionen des Publikums eher negativ sind, was zu einer Verschiebung in der Wahrnehmung des Paares führen kann. Kommentare wie “Warum seid ihr überhaupt zusammen?” oder “Vielleicht solltet ihr mal anfangen zu judgen!” befeuern den polarisierenden Content. Die menschliche Faszination für Kontroversen und Gerüchte ist tief in unserer Psychologie verwurzelt. Studien zeigen, dass Klatsch und Tratsch nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch wichtige soziale Funktionen erfüllen.

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In 2020 schrieb Psychologie Heute, wie sehr das Teilen von Informationen über Dritte das soziale Lernen und stärkt zwischenmenschliche Bindungen fördert. Es ermöglicht uns, soziale Normen zu verstehen und unser Verhalten entsprechend anzupassen. Dies unterstreicht die Bedeutung solcher Gespräche für das Verständnis und die Navigation sozialer Strukturen.In uns schlummert eine gewisse Neigung zu Kontroversen und Gerüchten, die evolutionär bedingt ist und eine Schlüsselrolle in der sozialen Dynamik und auf Social Media spielt.

Marken können die menschliche Neugier nach Gossip und Kontroversen geschickt nutzen, um ihre Credibilität, Authentizität und Vertrauenswürdigkeit zu stärken, indem sie sich als transparente und verantwortungsbewusste Erzähler positionieren. Statt selbst Teil der Gerüchteküche zu werden, können sie beispielsweise kontroverse Themen aufgreifen und fundiert dazu Stellung beziehen, Missverständnisse aufklären oder Fakten liefern. Durch den Einsatz von ehrlichem Fuck-Up Storytelling, das ungeschönte Einblicke in Herausforderungen oder Lernprozesse gibt, können Marken Nähe und Vertrauen aufbauen. Der Schlüssel liegt darin, sich klar von Spekulationen zu distanzieren und stattdessen eine Plattform für sachliche und lösungsorientierte Diskussionen zu schaffen, die den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht. So wird die Marke zum Ankerpunkt für Glaubwürdigkeit, während sie gleichzeitig das natürliche Bedürfnis nach spannenden Geschichten erfüllt.